Kindergarten: Auffälligkeiten schon seit 2020
Im erst heuer bekanntgewordenen Verdachtsfall des sexuellen Missbrauchs in einem städtischen Kindergarten in Wien-Penzing hat sich nun herausgestellt, dass zwölf Eltern bereits seit 2020 Auffälligkeiten bei ihren Kindern bemerkt und großteils gemeldet haben. Dennoch seien die weiteren Eltern nicht oder nur "halb" über die Vorwürfe informiert worden, zitierten Kinder-und Jugendanwalt Ercan Nik Nafs und Stadtrat Christoph Wiederkehr (NEOS) am Donnerstag aus einem Prüfbericht.
Die Auffälligkeiten reichten von Albträumen und plötzlichem Bettnässen, über die permanente Weigerung in den Kindergarten zu gehen, bis hin zu Angst vor dem Klo und dem Waschraum im Kindergarten, erläuterte Nik Nafs. Es habe nicht einmal Aufklärung gegeben, "als sich unter den Kindern das Gerücht verbreitete, der (versetzte, Anm.) betroffene Pädagoge sei an Corona gestorben". Dem Bericht zufolge haben sich Eltern von acht dieser zwölf Kinder schon vor dem März 2021 - also zu einem Zeitpunkt, zu dem der des Missbrauchs verdächtige Mitarbeiter noch in dem betroffenen Kindergarten Dienst versah - mit Pädagoginnen und Pädagogen bzw. der Leitung des betreffenden Kindergartens in Verbindung gesetzt, "weil sie Auffälligkeiten bei ihren Kindern beobachteten, die sie nicht einordnen konnten", wie es in dem Bericht heißt.
Die Kinder-und Jugendanwaltschaft (KJA) hat in den Bericht eine genaue Fallbeschreibung integriert, aus der unter anderem hervorgeht, wie die Leitung des Kindergartens offenbar viel zu lange kalmiert hat und erst spät Maßnahmen ergriff. So schilderte bereits im Juni 2020 eine Familie der Kindergartenleitung ein häufiges Aufwachen ihres Sprösslings in der Nacht mit lautem Schreien, bei dem er sich an das Gesäß griff und "Nein!" schrie. "Die Eltern berichteten der Leitung auch, dass das Kind an jenen Tagen, an denen die Hauptpädagogin nicht in der Gruppe ist, nur mit großer Überredungskunst und unter Weinen davon zu überzeugen ist, doch in die Gruppe zu gehen. Die Leitung weist darauf hin, dass dies normal ist und vorkommen kann."
Im Oktober desselben Jahres werden Eltern eines weiteren Kindes von der Leitung angerufen, weil es Schmerzen und eine auffallende Rötung im Genitalbereich hat. Ein Arzt stellt keinen Harnwegsinfekt fest. Doch erst Ende März 2021 - genau am 24. - wird die Kindergartenleitung aktiv, nachdem sich eine weitere Familie an die Beratungsstelle Selbstlaut wendet und in weiterer Folge die Leitung mit detaillierten Schilderungen ihres Kindes in Richtung eines Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs durch den verdächtigten Pädagogen konfrontiert. Die Leitung wirkt zwar empathisch auf die Eltern, "meint aber auch, sie könne sich das vom verdächtigten Pädagogen gar nicht vorstellen". Die Familie informiert die Leitung auch, dass ihr Kind von zwei weiteren Kindern erzählt hat, die möglicherweise Opfer von sexuellem Missbrauch durch den Pädagogen wurden. Erst dann wurde die Aufsichtsbehörde, die Kinder- und Jugendhilfe (MA 11), von der für die Kindergärten zuständigen MA 10 informiert. Diese gab der MA 10 am selben Tag die Anweisung, den verdächtigten Pädagogen vom Kinderdienst abzuziehen.
Der Wiener Kinder- und Jugendanwalt Nik Nafs kritisierte bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Vizebürgermeister Wiederkehr die hierarchischen Strukturen. Eltern von betroffenen Kindern seien mit der Bitte, auch andere Eltern zu informieren, zurückgewiesen worden - mit dem Hinweis, man warte zunächst auf eine "Entscheidung von oben". Er ortete eine "mangelnde Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung" und Angst vor Vorgesetzten. In dem Bericht werden "zumindest in Teilen der Organisation eine problematische Unternehmenskultur" verortet und unter anderem Fehlerkultur, autoritäre Führungsstile, Angst vor Vorgesetzten oder falsche Zurückhaltung in der Kommunikation angeführt. "Aus der Fallgeschichte wird deutlich, dass das Beschwerde- und Krisenmanagement der MA 10 unzureichend ist", heißt es weiter im Fazit des Berichts.
Der unter Federführung der KJA erstellte Bericht zeige auf, "dass hier nicht früh genug mit den Eltern kommuniziert worden ist", sagte Wiederkehr. Die Prüfung lege auch dar, dass es Kinderschutzeinrichtungen gegeben hat, aber vielleicht zu komplex. Die Frage über Schuld oder Nicht-Schuld des Pädagogen "ist keine Frage die ich als Politiker beantworte, oder auch der Bericht", betonte der Vizebürgermeister. Es gelte die Unschuldsvermutung, die Staatsanwaltschaft führe Ermittlungen. Die Ableitungen aus dem Berichts sollen einerseits den Kinderschutz stärken, aber auch das Vertrauen in städtische Bildungseinrichtungen. Der Prüfbericht sei der Startpunkt für einen "großen Aktionsplan Kinderschutz" in Wien.
Dieser soll zunächst vier Punkte umfassen: So will Wiederkehr bei der für die Kindergärten zuständigen MA 10 eine Ombudsstelle einrichten, wie dies die KJA in ihrem Bericht auch empfiehlt. Demnach soll diese weisungsfrei sein und Kindern, Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen sowie dem nicht-pädagogischen Personal der MA 10 zur Verfügung stehen. Die Bediensteten der Ombudsstelle müssten zum Thema Kinderschutz geschult sein und bei der Schlichtung und Beratung von Problemen zuständig sein, die "im Rahmen des üblichen Beschwerdemanagements nicht erledigt werden können".
Der Stadtrat will auch für die Mitarbeiter ein Tool erstellen, mit dem sie - auch anonym - beobachtete Missstände und Probleme melden können oder Verbesserungsvorschläge im Bereich der MA 10 einbringen können. Dazu kommt ein - ebenfalls von der KJA empfohlenes - Schulungsprogramm aller MA-10-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter zum Kinderschutz. Wiederkehr kündigte auch an, dass das Kinderschutzkonzept der Stadt weiterentwickelt "und so implementiert wird, dass es für alle verständlich ist".
Die KJA empfahl auch die Etablierung eines Wiener Kinderschutzgesetzes. Wiederkehr kündigte an, dass in der kommenden Woche Gespräche zu dem Thema stattfinden, an denen auch Experten des Kinderschutzzentrums Möwe und der Wiener Kinderschutzzentren teilnehmen werden. In ihren Empfehlungen wies die Kinder- und Jugendanwaltschaft darüber hinaus auf die Dringlichkeit der Schaffung einer bundesweiten gesetzlichen Regelung zum Kinderschutz hin, die Wiederkehr begrüßte, aber auf die Bundeszuständigkeit hinwies.
In den strafrechtlichen Ermittlungen gab es laut Auskunft der Sprecherin der Wiener Staatsanwaltschaft, Nina Bussek, keine neuen Erkenntnisse. Derzeit werde gegen zwei Verdächtige in vier Verdachtsfällen ermittelt. Dabei gehe es bei einem der beiden aber nicht um sexuellen Missbrauch Unmündiger, sondern um möglicherweise strafrechtlich relevante Erziehungsmethoden.
Die Wiener ÖVP forderte Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) auf, die Causa zur Chefsache zu erklären. Zudem sei bekannt geworden, dass bereits 2020 mehrere Eltern über Auffälligkeiten ihrer Kinder berichteten. "Diese konkreten Vorwürfe fallen daher in die Amtszeit von Stadtrat Jürgen Czernohorszky. Die Wiener SPÖ kann sich daher aufgrund dessen auch nicht weiter aus der Affäre ziehen, sondern muss ebenso aktiv zur Aufklärung beitragen", kritisierte Klubobmann Markus Wölbitsch. Ludwig müsse die Umsetzung der am Donnerstag angekündigten Maßnahmen "persönlich gewährleisten".
Die Wiener Grünen sagten, dass der Bericht "ein katastrophales Bild auf struktureller Ebene und ein komplettes Kommunikationsversagen" zeige. Die Bildungssprecher Julia Malle und Felix Stadler forderten Wiederkehr auf, "seine Abteilung komplett neu aufzustellen". Kritisiert wurde, dass der angedachte Aktionsplan zudem nur für die städtischen Kindergärten gelten solle. "Auch die Schulungen für Mitarbeiter:innen des pädagogischen und nicht pädagogischen Personals zum Thema Kinderschutz und -rechte sind nur für die Städtischen vorgesehen", hieß es. "Zwei Drittel der elementarpädagogischen Einrichtungen sind privat geführt und von der Stadt Wien gefördert. Warum endet Kinderschutz also bei den städtischen Einrichtungen?", so Malle und Stadler.
Die younion-Kindergartengewerkschaft forderte mehr Personal. Für die Umsetzung von Reformen würden 350 Pädagoginnen und Pädagogen fehlen. (APA)