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Wiener Festwochen: Der provokative Versöhner in unversöhnlicher Zeit Wiener Festwochen: Der provokative Versöhner in unversöhnlicher Zeit
Kultur

Wiener Festwochen: Der provokative Versöhner in unversöhnlicher Zeit

Eine für Dienstag angesetzte "Rede an Europa" des Philosophen Omri Boehm lässt die Gemüter hochkochen.
W24 Redaktion
Dienstag, 07. Mai 2024
Verfasst am 07.05.2024 von W24 Redaktion

Dem Wiener Festwochen-Intendanten Milo Rau gelingt bereits vor Beginn seiner ersten Festivalausgabe das, was vielen seiner Vorgänger zuletzt selbst während des Events nicht gelungen ist: Die Festwochen sind in aller Munde. Nachdem sich im Februar angesichts des Ukraine-Krieges eine Debatte um die Einladung des russisch-griechischen Dirigenten Teodor Currentzis entzündet hatte, ist es nun der Vorwurfe des Antisemitismus, der die Stadtgesellschaft beschäftigt.

Nachdem zuvor bereits die Verpflichtung der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux und des griechische Ökonomen Yanis Varoufakis für den virtuell tätigen Rat der Republik Antisemitismus-Vorwürfe hatte laut werden lassen, ist es nun die für den heutigen Abend am Judenplatz angesetzte "Rede an Europa" des Philosophen Omri Boehm, die die Gemüter hochkochen lässt. Am Vormittag stellten sich die Verantwortlichen der Presse.

Unter anderem hatte Boehms Eintreten für ein binationales Israel im Sinne einer israelisch-palästinensischen Föderation im Gegensatz zum Konzept der Zwei-Staaten-Lösung Ariel Muzicant als Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses zur Aussage im "Kurier" veranlasst: "Wäre ich 30 Jahre jünger, würde ich am Dienstag hingehen - und Eier werfen."

"Sollten Eier geworfen werden, ist das die Verantwortung von Herrn Muzicant", machte Milo Rau deutlich, dass jede Form von Gewalt gegen Gäste der Festwochen nicht zu akzeptieren seien. Er selbst sei vollends verwundert von den Reaktionen der vergangenen Tage, hatte er doch, als der Name Omri Boehm für die "Rede an Europa" aufgetaucht sei, eigentlich für jemand votiert, der fragwürdigere Positionen vertrete. Mittlerweile sei aber klar: "In einer Zeit, die unversöhnlich ist, provoziert der Versöhner." Deshalb stehe man selbstverständlich zu Boehm und seiner Rede. Dass Partner (wie die Erste Stiftung, Anm.) auf Druck von außen ausgestiegen sind, sei sehr bedauerlich.

Auch Rektor Misha Glenny, dessen Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) die Rede gemeinsam mit den Festwochen organisiert, unterstrich im Bezug auf Boehm: "Alles, was er tut, beinhaltet den Dialog. [...] Es ist der richtige Mensch an der richtigen Stelle." Für die pubertären Anwürfe der vergangenen Tage gebe es keinerlei Rechtfertigung.

In seiner Rede mit dem Titel "Shadows of History, Spectres of the Present: The Middle East War and Europe's Challenge" will sich Boehm am Abend mit dem Nahostkonflikt in seiner Wirkung auf die europäische Identität auseinandersetzen. Details seiner Rede wolle er dennoch nicht verraten, machte der Philosoph deutlich.

Dass er dem Antisemitismus den Weg bahne, wie dies Oskar Deutsch als Präsident der Israelischen Kultusgemeinde proklamiert hatte, wies Boehm zurück: "Es gibt nichts in meiner Rede, das als antisemitisch gelesen werden könnte." Man könne böswillig sein Konzept der Reduzierung jüdischer Souveränität, die einen föderalen Staat voraussetze, als antisemitisch lesen - was falsch sei, aber wohl hinter den Anwürfen stehe. Dabei bleibe zu konstatieren: "Die Ursprungsidee des Zionismus war nicht staatliche jüdische Souveränität, sondern jüdische Selbstbestimmung." Dass ausgerechnet Menschen wie Ariel Muzicant die freie Rede unterdrücken wollten, sei bedauerlich, sei sie doch essenzielle Voraussetzung für den Universalismus der Aufklärung im Kant'schen Sinne.

Ambivalent betrachtet Boehm dabei die virulenten Proteste an den US-Universitäten. Es bereite ihm einerseits Sorgen, wenn die Zeltlager geräumt werden, zugleich misstraue er den Protestierenden und Studierenden. "Die Mehrheit meiner Studierenden sympathisierte mit dem Massaker am 7. Oktober", erinnerte sich an die Reaktionen vor einem halben Jahr. Und man könne die jetzigen Proteste nicht ohne das Wissen um diese damaligen Reaktionen betrachten.

Es entspreche überdies in keiner Weise der Wahrheit, dass er die Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus Palästina 1948, die Nakba, mit dem Holocaust gleichsetze, wie fälschlich behauptet: "Es entspricht nicht meiner Sicht, dass die Nakba mit dem Holocaust vergleichbar ist. [...] Ich verneine nicht die Singularität des Holocausts." (APA)