Von Essiggurken und Augäpfeln
Überlegungen über das postsowjetische Russland, eine Auseinandersetzung mit Mensch und Technologie oder altertümliche Löwenjagd: Drei neue Ausstellungen bieten in der Wiener Secession Einblicke in unterschiedliche künstlerische Positionen aus drei Kontinenten. Der Amerikaner Tishan Hsu bespielt mit hybriden Skulpturen den Hauptraum, die Schottin Charlie Prodger gibt Einblicke in ihr vielfältiges Werk und die Agency of Singular Investigations präsentiert ihre Russland-Kritik.
Die wechselseitige Durchdringung von Mensch und Technologie ist im Hauptraum allgegenwärtig: Der US-amerikanische Künstler Tishan Hsu (72) zeigt dort unter dem Titel "recent work 2023" Arbeiten aus den vergangen Jahren, die u.a. auf der Biennale in Venedig oder der Carnegie International zu sehen waren. Die hybriden Wesen - Körperabgüsse "wachsen" aus digital generierten Mustern - scheinen sich je nach Perspektive im Raum zu bewegen, menschliche und tierische Körperteile wechseln sich dabei ab. Auf die Spitze getrieben wird dieser fluide Transformationsprozess auf einer LED-Videowall, in der nicht nur abstrakte Formen generiert werden, sondern auch Close-ups von sich bewegenden Mündern oder Augäpfeln. Einem aufgeklappten Laptop nachempfunden ist die hautfarbene Großskulptur "tablet-skin-screen", aus der ebenfalls aus Vinyl gefertigte Körperabgüsse ragen.
In der Galerie im Untergeschoß präsentiert die 2018 mit dem Turner-Preis ausgezeichnete schottische Künstlerin Charlie Prodger (Jahrgang 1974) "The Offering Formula": Dabei stehen im ersten Raum Prozesse der Musealisierung im Zentrum: In der Serie "Palace Prints" (2019) fotografierte die Künstlerin Buchseiten mit Abbildungen von ca. 640 v. Chr. entstandenen Reliefs, die allesamt Löwenjagdszenen darstellen, auf Rasternetzen. Dabei interessierte sie sich vor allem für die "verflachte Erscheinung zwischen Vorder- und Hintergrund" sowie die verwendete Perspektive, wie Prodger bei der Presseführung erläuterte. Ein eigener Raum ist ihrer Filmtrilogie gewidmet: Der autobiografische Zyklus widmet sich "Zugehörigkeiten, Sehnsüchten und Verlusterfahrungen", das Material wurde weitgehend ungeplant mit dem Smartphone aufgenommen. "Immer, wenn ich einen aufwendigen Dreh plane, verwende ich am Ende davon kein einziges Motiv. Mir ist es auch lieber, allein und nicht in einem großen Team zu arbeiten", so die Künstlerin, die mit der Kamera etwa durch eine schneebedeckte Landschaft wandelt oder einen schlafenden Fuchs beobachtet. Aus dem Off kommen Stimmen von Prodgers Freunden, die aus den privaten Tagebüchern der Künstlerin zitieren.
Die "dramatischen Veränderungen der politischen Realität" stehen im Fokus der Agency of Singular Investigations: Im Grafischen Kabinett nehmen Anna Titova und Stanislav Shuripa zur aktuellen Atmosphäre in Russland Stellung. Die Installation "On New Thinking and Other Forgotten Dreams" widmet sich den Ergebnissen ihres Forschungsprojekts "The Park of Mind Revolutions", das sich mit der "Geschichte der Subjektivität und Formen und Funktionsweisen des Selbstverständnisses Russlands im 20. und 21. Jahrhundert auseinandersetzt", wie es im Begleittext heißt. Zu sehen ist etwa eine "Lennon-Lenin"-Büste, eine in einem Aquarium auf einem Wolkenkratzer platzierte Essiggurke, die mit einem Arbeiter über das postsowjetische Russland diskutiert oder ein großes Diagramm, das diese Diskussion grafisch aufarbeitet. (APA)